18. Oktober 2022
Grosse Lücken bei der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long Covid in der Schweiz (Medienmitteilung vom 18. Oktober 2022)
Über 130 Familien mit von Long Covid betroffenen Kindern und Jugendlichen aus der Deutschschweiz werden seit Januar 2022 vom Verein Long Covid Kids Schweiz unterstützt. Pro Woche stossen bis zu fünf neue Familien zur Gruppe hinzu. Viele Kinder und Jugendliche sind schon seit Monaten, einzelne sogar seit fast zwei Jahren wegen Long Covid so krank, dass sie hausgebunden oder bettlägerig sind und den Präsenzunterricht fast nicht mehr oder gar nicht mehr besuchen können. Die betroffenen Familien werden mit ihren Problemen im Alltag alleingelassen. Es fehlen Schulen für körperlich chronisch kranke Kinder, offizielle Fachstellen, welche den Familien beratend zur Seite stehen, finanzielle Unterstützung, Forschungsprojekte, heilende Therapien und Ärzt:innen, die sich mit chronischen postinfektiösen Erkrankungen auskennen.
Im Januar 2022 wurde der Verein Long Covid Kids Schweiz als Teil der Patientenorganisation Long Covid Schweiz gegründet. Sie verfügt über eine eigene Webseite longcovidkids.ch und eine eigene Facebook-Gruppe. In dieser tauschen sich aktuell über 130 Familien mit von Long Covid betroffenen Kindern und Jugendlichen intensiv aus. Zudem haben die Familien Zugang zu Zeitungsartikeln, Fernsehbeiträgen, Studien oder Fachartikeln. Die von Long Covid betroffenen Kinder und Jugendlichen tauschen sich in eigenen Whatsapp-Chats aus.
Zusätzlich beantwortet Long Covid Kids Schweiz rund um die Uhr E-Mails und versucht in Krisensituationen zu helfen – beispielsweise, wenn ein Schulleiter wegen den langen Schulabwesenheiten eines Kindes die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) einschalten will, oder ein Arzt die Long Covid-Symptome eines Kindes als psychisches Problem beurteilt und das Kind zur Rückkehr in die Schule drängt, was zu einer Symptomverschlechterung führen kann.
Erschütternde Berichte von Familien
Auf unserer Webseite https://longcovidkids.ch/meine-geschichte/ geben verschiedene Familien Einblicke in den Alltag ihrer Kinder mit Long Covid. Die Berichte sind erschütternd: Kinder und Jugendliche, die Tag für Tag unter Belastungsintoleranz, Erschöpfung, Kopfschmerzen, Übelkeit, Bauchschmerzen, Grippegefühl oder Schlafstörungen, leiden – Kinder und Jugendliche, die nur noch eine oder zwei Lektionen pro Tag den Präsenzunterricht besuchen können – Kinder und Jugendliche, die so schwer krank sind, dass sie monatelang, oder einzelne inzwischen sogar fast zwei Jahre hausgebunden oder bettlägerig sind und gar nicht mehr zur Schule gehen können. Für die Eltern von schwer betroffenen Kindern und Jugendlichen bedeutet dies, dass ein Elternteil die Arbeit aufgeben oder sie ins Homeoffice verlagern muss, damit das kranke Kind daheim gepflegt werden kann.
Long Covid betrifft auch Primarschüler
Bei Long Covid Kids Schweiz sind 10- bis 12-jährige Kinder mit Long Covid mindestens genauso häufig vertreten wie 13- oder 14-jährige Jugendliche. Manche Jugendliche sind aber auch 15 Jahre alt, einige Kinder jünger als 10. Das Alter der betroffenen Jugendlichen zeigt, dass Long Covid nicht nur Jugendliche, sondern mindestens genau so häufig auch präpubertäre Kinder trifft.
Wir schätzen, dass bisher etwa 400 bis 500 Kinder und Jugendliche wegen Long Covid in Sprechstunden an Schweizer Universitäts- oder Kantonsspitälern abgeklärt worden sind. Zu diesen bereits erfassten Kindern und Jugendlichen kommen die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit Long Covid hinzu, die von Kinder- und Hausärzten betreut werden oder deren Long Covid-Symptome bis jetzt nicht diagnostiziert oder abgeklärt wurden. Aufgrund der grossen Dunkelziffer an Coronafällen, dem starken Rückgang des Testens sowie dem Fehlen eines Registers in der Schweiz, in welchem Verdachtsfälle oder bestätigte Long Covid-Fälle erfasst werden können, bleibt die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit vermutetem oder bestätigtem Long Covid ein grosses Fragezeichen.
Unsichtbar schwer krank über Monate
Kindern und Jugendlichen, die unter Long Covid leiden, wird in der Schweiz kaum Beachtung geschenkt – vor allem, da die Pandemie als beendet erklärt wurde. Bei den Kindern und Jugendlichen kommt erschwerend hinzu, dass Vertreter der Ärzteschaft und der Politik immer wieder betonten, dass es sich bei Kindern und Jugendlichen mit Long Covid um Einzelfälle handle und die Erkrankung meist schnell abheile. Die Erfahrungen in unserer Gruppe aber zeigen, dass Kinder und Jugendliche zwar weniger häufig von Long Covid betroffen sind als Erwachsene, dass aber diejenigen mit schweren Verläufen oft genauso schwer und lange krank sind wie manche Erwachsene.
Long Covid beeinträchtigt das Jetzt und macht die Zukunft ungewiss
Long Covid bei Kindern und Jugendlichen führt dazu, dass sie einen wichtigen Teil ihrer Jugend verlieren. Primarschüler*innen trifft es überdies in einer äusserst wichtigen Lebensphase, nämlich dann, wenn mit dem Übertritt in die Sekundarschule oder das Gymnasium die ersten Weichen für die berufliche Zukunft gestellt werden. Bei Jugendlichen führt es dazu, dass sie die Lehre oder die Oberstufenschule abbrechen müssen. Schwer an Long Covid erkrankte Kinder und Jugendliche verlieren über längere Zeit ihre Gesundheit und können oft über Monate fast oder gar nicht mehr am Präsenzunterricht teilnehmen. Dadurch verlieren sie den Zugang zur Bildung sowie ihre sozialen Kontakte. Aus diesem Grund braucht es dringend auf die individuellen Bedürfnisse der Familien anpassbare Bildungsangebote, die zeit- und ortsunabhängig sind, damit betroffene Kinder und Jugendliche unabhängig vom Stundenplan lernen können, wenn es ihr Gesundheitszustand erlaubt.
Aufgrund der langen Absenzen und der fehlenden angepassten Bildungsangebote für körperlich kranke Kinder mussten schon mehrere Kinder und Jugendliche unseres Vereines das Schuljahr wiederholen oder konnten krankheitshalber die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium nicht absolvieren.
Schulunterricht in der Tagesklinik
Aufgrund der Schulpflicht, dem Fehlen von Schulen für körperlich chronisch kranke Kinder und Lücken im Angebot der Invalidenversicherung für Kinder unter 14 Jahren, werden schon heute manche Kinder und Jugendliche mit Long Covid in Institutionen mit psychiatrischer Ausrichtung (beispielsweise Tageskliniken des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) beschult. Diese Beschulungsmöglichkeit betrachten wir – ohne dabei die Wichtigkeit und das Angebot dieser Institutionen in Frage stellen zu wollen – als nur beschränkt zielführend, da betroffene Kinder in erster Linie unter körperlichen Beschwerden leiden, denen man in diesen Einrichtungen kaum gerecht werden kann. Überdies sind manche Kinder und Jugendliche mit Long Covid so schwer krank, dass sie hausgebunden oder bettlägerig sind und deshalb auch nicht in einer psychiatrischen Tagesklinik beschult werden können.
Offizielle Anlaufstellen fehlen
Abgesehen von den Haus- und Kinderärzten sowie den Long Covid-Sprechstunden, in welchen die medizinischen Abklärungen vorgenommen werden, gibt es für die betroffenen Familien keine offiziellen Anlaufstellen. Es fehlen nach wie vor auf Long Covid spezialisierte Fachstellen, welche den betroffenen Familien im Alltag mit Rat und Tat zur Seite stehen – beispielsweise, wenn eine alleinerziehende Mutter wegen ihres kranken Kindes nicht mehr arbeiten gehen kann, oder wenn Eltern ihr Kind wegen der Schwere der Long Covid-Erkrankung bei der IV anmelden möchten – was gemäss Gesetz erst ab dem 14. Lebensjahr möglich ist. Dies muss sich ändern, da auch manche Primarschulkinder so schwer an Long Covid erkranken, dass eine IV-Anmeldung nötig ist.
Manche Kinder und Jugendliche bleiben chronisch krank
Einige Kinder und Jugendliche unserer Gruppe sind nach mehreren Monaten Krankheit inzwischen wieder fast so gesund wie vor der Erkrankung oder fühlen sich zumindest wieder deutlich besser. Bei anderen wiederum hat sich der Gesundheitszustand nach einem halben oder ganzen Jahr oder sogar nach zwei Jahren nicht gross verändert. Einzelne Kinder haben inzwischen zusätzlich zur Diagnose Long Covid auch die Diagnose myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Erschöpfungs-Syndrom (ME/CFS) erhalten. Bei ME/CFS handelt es sich um eine schwere neuro-immunologische Erkrankung. Diese tritt hauptsächlich nach einer Virusinfektion auf und macht den Alltag der Betroffenen über Monate oder auch Jahre aufgrund der extremen Erschöpfung, der Schmerzen und der Zustandsverschlechterung nach geringer geistiger oder körperlicher Belastung kaum noch oder gar nicht mehr bewältigbar.
In der Schweiz ist die Krankheit ME/CFS kaum bekannt, wird von der Ärzteschaft meist nicht anerkannt und im Medizinstudium auch nicht gelehrt, obwohl sie schon seit Jahrzehnten existiert und beispielsweise durch das Pfeiffersche Drüsenfieber (Epstein Barr-Virus) ausgelöst werden kann.
Angst vor dem Einschalten der Behörden
Aufgrund des Unwissens über ME/CFS in der Schweiz besteht für die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Gefahr, dass sie wegen der langen Schulabwesenheiten als Schulverweigerer oder psychisch krank abgestempelt werden. Mehreren Familien unserer Gruppe mit langzeiterkrankten Kindern und Jugendlichen wurde seitens von Ärzten oder vereinzelt durch Lehrpersonen bereits mit dem Einschalten der Behörden gedroht. Für die betroffenen Familien sind solche Gespräche nicht nur demütigend, sondern machen ihnen auch Angst.
Sofortige Hilfe notwendig
Auch wenn die Aussicht auf Heilung bei Kindern und Jugendlichen mit Long Covid und/oder ME/CFS besser ist als bei den Erwachsenen, werden einige chronisch krank bleiben – zum Teil auch schwer. Deshalb braucht es dringend:
- Offizielle Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche mit Long Covid und deren Familien
- Ein Register zur Erfassung von Long Covid-Fällen
- Kohortenstudien
- Forschungsförderung und klinische Studien, welche die Wirksamkeit und Sicherheit von Behandlungsansätzen untersuchen
- Aufbau eines Kompetenzzentrums für postinfektiöse Erkrankungen in der Schweiz für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, analog dem Fatigue-Centrum in Berlin. https://cfc.charite.de/
- Unbürokratische finanzielle Hilfe für Eltern, die durch die Long Covid-Erkrankung ihrer Kinder in finanzielle Not geraten
- Finanzierung von Online-Bildungsangeboten (beispielsweise Swissonlineschool) durch die Kantone für Kinder und Jugendliche mit Long Covid sowie Bezahlung von Einzelunterricht für Kinder und Jugendliche mit Long Covid, die fast nicht mehr oder gar nicht mehr den Präsenzunterricht besuchen können
Für weitere Informationen:
Claudia Schumm, Mitgründerin und Verantwortliche des Vereins Long Covid Kids Schweiz, gleichzeitig Vorstandsmitglied der Patientenorganisation Long Covid Schweiz, info@longcovidkids.ch